BANGKOK oder wie ich noch nicht über Indien hinweg war
„Halte dich nicht zu lange in Bangkok auf. Die Stadt ist sehr unruhig. Ein paar wenige Tage sind völlig ausreichend, um einen Eindruck von der Stadt zu bekommen.“ Sätze wie diese habe ich während meiner Reiseplanung für Thailand in diversen Blogbeiträgen, in Reiseführern und in Facebookgruppen gelesen. Folglich habe ich in Bangkok nur zwei Nächte in meinem Hostel gebucht mit der Absicht unmittelbar danach weiter in den Norden Thailands zu reisen. Diese anfänglichen Warnungen schwirren mir noch immer im Kopf herum, als ich an die Rezeption meines Hostels trete. Die Managerin des Hostels, eine junge Frau mit sanften Gesichtszügen, lächelt mich warm an, sobald sie mich sieht: „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragt sie sofort. „Möchtest du vielleicht ein Taxi bestellen?“ Sie möchte mir meinen Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten und versucht mir meine möglichen Wünsche immer sofort vorwegzunehmen. „Nein, danke“, gebe ich freundlich zurück. „Ich würde meinen Aufenthalt hier gerne um vier weitere Nächte verlängern.“ „Ahhh okay“, sagt sie und weitet dabei überrascht die Augen, sodass ich das Bedürfnis verspüre, meine Entscheidung zu erklären: „Ich würde meinen Aufenthalt in Bangkok gerne verlängern, weil es hier so schön ruhig ist.“ Jetzt schaut mich die Managerin an, als würde ich sie auf den Arm nehmen wollen. Deswegen schiebe ich sogleich hinterher: „Nun ja, ich habe gerade einen ganzen Monat in Indien verbracht und im Vergleich zu Indien kommt mir Bangkok sehr ruhig vor." „In Indien?“, fragt sie und wirkt nicht weniger überrascht. „Da würde ich niemals hingehen.“ Wir kommen miteinander über meine Indien-Reise ins Gespräch und ich erzähle ihr ein wenig von von Indien, von den Städten, die ich dort besucht habe, von der Gastfreundlichkeit der Menschen und davon, dass das Land halb so wild ist, wenn man dort gute Freunde hat, denen man vertrauen kann.
Nach diesem Gespräch wird mir nochmal umso mehr bewusst, wie sehr die Erfahrungen, die ich in Indien gemacht habe, meine Sinneswahrnehmungen in Thailand prägen, die Art wie ich kommuniziere, meine Erwartungshaltungen und momentanen Bedürfnisse und mich fasziniert die Vorstellung, dass man einen Ort immer aus der Brille des Landes betrachtet, aus dem man gerade herkommt. Und nach einem ganzen Monat in Indien, ist die Brille, aus der ich Bangkok betrachte, eine indische.
Als ich das Hostel an diesem Nachmittag verlasse, um einen Night Market zu besuchen, beschließe ich, einmal näher darauf zu achten. Einer der Gründe, warum mir Bangkok nach meinem Aufenthalt in Indien so leise vorkommt, ist der Verkehr. Von Indien habe ich noch immer das wilde Hupkonzert der kreuz und quer durch die Straße brausenden Autos, Tuk-Tuks und motorbikes als ständiges Hintergrundgeräusch im Kopf, während die Fahrzeuge hier in Bangkok nahezu leise und rücksichtsvoll auf der für ihre Fahrtrichtung vorgesehenen Seite über die Straßen gleiten. Es gibt sogar in regelmäßigen Abständen Fußgängerübergänge in Form von Zebrastreifen, die für mich zumindest der Form nach wie in Deutschland aussehen. Als ich einen von diesen überqueren möchte, bin ich kurz irritiert, als die Autos und motorbikes anhalten und warten bis ich den Übergang überquert habe, bevor sie weiterfahren. Das Überqueren der Straße kommt mir hier auf einmal lächerlich einfach vor.
Während ich auf dem Weg zum Night Market durch die Gassen schlendere, fühle ich mich ungewohnt ignoriert. Die Menschen gehen ihrem täglichen Geschäft nach, streifen fröhlich schnatternd, in Grüppchen durch die engen Gässchen, einige tragen fettige Fleischspieße, Bubble Tea oder in Plastiktüten abgepackte, leuchtend gelbe Mango-Smoothies in der Hand und scheinen sich nicht dafür zu interessieren, ob ich nun aus Deutschland oder Australien komme, wie lange ich hier bleibe, wie viel Geld ich monatlich verdiene oder was ich überhaupt in Thailand treibe. Auch wenn es in Indien, angetrieben durch die große Neugier der Einheimischen oder einfach ihrem übereifrigen Geschäftssinn, häufig zu spannenden Interaktionen kam, genieße ich die Anonymität, die ich hier in Bangkok erfahre. Auch die eindringlichen Blicke der indischen Männer, die ihren Blick nicht abwenden, wenn ich zurückschaue, vermisse ich nicht. Die Einheimischen hier halten auf angenehme Art und Weise Distanz. Ich laufe eine Weile die gepflasterte Straße entlang bis die ersten Marktstände auftauchen und mir der eindringliche Geruch von gebratenen, flambierten und frittierten Fleischgerichten in die Nase steigt, ein Geruch, der in der feucht-schwülen Luft Bangkoks konserviert wird.
Der hohe Fleischkonsum der Thais ist tatsächlich eine Sache, an die ich mich nach meinem Indien-Aufenthalt erst wieder neu gewöhnen muss. Zu gerne erinnere ich mich an die köstlichen Gerichte der indischen Küche, an Masala Dosa, knusprige Reispfannekuchen, die in erfrischenden Chutney- und Sambasaucen gedippt werden, an goldgelb frittierte Samosa, gefüllt mit einer sämig-scharfen Kartoffelpaste und an die vielseitigen Curryvariationen wie zum Beispiel Pav Bhaaji, das aus Gemüse und allerhand Gewürzen besteht und mit Buttertoast serviert wird. Völlig undenkbar wäre es in Indien so viel Fleisch an den Ständen anzubieten.
Als ich meinem Guide im Vorfeld meiner Streetfood-Tour durch Jaipur mitteilte, ausschließlich vegetarisch zu essen, lachte dieser nur und erklärte mir, dass es auf der Tour selbstverständlich nur vegetarische Gerichte zu essen gäbe. Während ich mich in Deutschland nicht an den vielen Fleischgerichten störe, erscheinen sie mir hier auf dem Markt in ihrer Variation und schieren Vielfalt auf einmal überwältigend.
Ich passiere einen Stand, an dem es gegrilltes Schweinefleisch an Spießen gibt, auch ganze Tintenfische am Spieß kann man hier kaufen. An einem weiteren Stand baumeln an langen Fäden gehäutete Hühner, während es direkt daneben wie Bonbons aufeinander geschichtete und mit frischen Kräutern garnierte, geröstete Maden und Kakerlaken zu kaufen gibt.
Die Ware an einem Stand mit frittierten Produkten begutachte ich etwas genauer, in der Hoffnung hinter der goldgelben Fettkruste verbirgt sich vielleicht doch einfach nur Käse oder etwas Gemüse. Ich sehe goldgelbe Teigtaschen, aus denen rosa Fischflossen herausragen und solche, die bei näherem Hinsehen wie frittierte Hühnerfüße aussieht. Es scheint keinen Teil des Tieres zu geben, das nicht zu Essen verarbeitet wird. Auf einmal komme ich an einen Stand, an dem eine riesige Menschentraube ansteht. Als ich näher herantrete, sehe ich, dass dort ein gehäutetes Krokodil aushängt. Sein nacktes Fleisch glänzt rosig, das breite Maul weit aufgerissen, enthüllt es eine Reihe von spitzen Zähnen, ist allerdings inzwischen nur noch ein gehäutetes Abbild seines damaligen Grauens. Ich trete an einen Stand mit Currysaucen heran und versuche die Zutaten der dickflüssigen Paste auszumachen. Ich kann Bohnen und Möhren ausmachen, es riecht verführerisch nach gebratenen Koriander, nach Knoblauch und Zitronengras. Die Namensschilder und Preise sind allesamt auf Thai aufgelistet. Wie ich dies aus Indien gewohnt bin, spreche ich die freundliche, ältere Verkäuferin, die gerade geschäftig dabei ist, Zwiebeln zu schneiden, einfach auf Englisch an: „Is it vegetarian?“ Sie lächelt mich an und scheint kein Wort, von dem, was ich gesagt habe, verstanden zu haben. Munter sagt sie ein paar Worte auf Thai, die ich wiederum nicht verstehe. „No meat?“, wage ich einen zweiten Anlauf. Sie schaut mich weiterhin ratlos an. Ich zücke mein Handy, öffne eine Übersetzungs-App und tippe „Vegetarian, no meat“ ein. Dann zeige ich ihr die thailändische Übersetzung auf meinem Handy. Während sie diese liest, erhellt ein Lächeln ihr Gesicht, das mir die Hoffnung gibt, es handele sich tatsächlich um ein vegetarisches Gericht: Sie deutet auf das Curry vor sich und sagt dann „Chicken“. Ich bedanke mich höflich und gehe etwas enttäuscht weiter.
Da ich mit dem Essen für heute wohl wenig Glück habe, laufe ich zu einem Stand, an dem Kleidung angeboten wird. Weite Hosen mit Elefantenmustern, an denen man die Touristen hier auf Anhieb erkennt, hängen neben langen Röcken in bunten Farben. Ein langer, leicht verwaschen aussehender Rock in Jeansfarben gefällt mir auf Anhieb. Ich wende mich an die Verkäuferin und deute auf den Rock. „How much?, frage ich sie. „300“, tippt sie in ihren Taschenrechner ein. „Sicherlich mal wieder ein Touristenpreis“, denke ich. Aus Rajasthan kenne ich es so, dass die Preise, die man als Reisender angeboten bekommt, häufig dreimal so hoch sind wie der eigentliche Preis und die Wertigkeit des Produkts somit um ein Vielfaches übersteigen. Ich spüre sogleich ein Prickeln irgendwo in meiner Bauchgegend. Wie weit bekomme ich den Preis wohl noch heruntergehandelt? „150“, sage ich. Die Verkäuferin fängt an zu lachen. Sie deutet auf ein Schild, auf dem der Preis von 300 Bath klar ersichtlich für alle Einheimischen und Touristen aushängt.
Es erscheint mir auf einmal lächerlich einfach, dass ich den auf dem Schild stehenden Preis einfach nur zu bezahlen brauche, ohne befürchten zu müssen, als offensichtliche Touristin den doppelten oder dreifachen Preis zu bezahlen. Da mir der Rock gut gefällt und ich ihn aufgrund seiner Länge gut für anstehende Tempelbesuche gebrauchen kann, entscheide ich mich dazu, ihn zu kaufen. Anschließend suche ich mir einen Stand mit cremigen Avocado-Smoothies und hole mir eine frische Ananas dazu, die ich auf dem Weg zurück zum Hostel anstelle eines warmen Currys oder eines Nudelgerichtes essen kann. Wann habe ich schon die Gelegenheit, so günstig frische Früchte essen und Smoothies trinken wie hier?
Nach einigen Tagen habe ich mich an das Reisen in Thailand gewöhnt. Mit jeder neuen Erfahrung, die ich in Thailand mache, akklimatisiere ich mich weiter und lerne, mich in dem neuen Land zurechtzufinden. Ich suche mir einen Streetfood-Laden mit vegetarischen Essen heraus, störe mich nicht länger an der Vielfalt an Fleischgerichten, lerne mich mit Händen, Füßen und meiner Übersetzungs-App mit den Einheimischen zu verständigen, gebe das Verhandeln auf den Märkten auf und finde den Straßenverkehr auf einmal gar nicht mehr so friedlich. Im Gedächtnis bleiben mir diese ersten rohen Eindrücke, aus denen mein Gehirn versucht hat, eine Bedeutung zu konstruieren aber noch für längere Zeit. In ihrer Intensität sind die ersten Tage in einem neuen Land nämlich am einprägsamsten.
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